Ich fuhr mit dem Zug von Berlin
nach Paris. Zwischen meiner Lektüre dachte ich über meinen Vater nach. Meine
erste Erinnerung an ihn zeigt ihn stehend, in seine Uniform gekleidet. Er war
damals gerade aus Korea zurückgekehrt und hatte eine Anstellung bei der Polizei
von Tyler gefunden. Mein Vater hatte im Zweiten Weltkrieg in der deutschen
Armee gedient und war nach seiner Übersiedlung in die Vereinigten Staaten in
die U.S. Army eingetreten, die ihn nach Korea entsandte. Jung war er damals und
sehr dünn, viel dünner als ich jetzt. Ich komme nach meinem Großvater
mütterlicherseits und bin größer und dunkler als mein Vater, der aus
Deutschland stammt und die blasse Haut eines Deutschen hat. Seine Augen sind
hellblau, und er lacht viel und gern. Ich dagegen ähnele dem Vater meiner
Mutter, einem dunklen Iren mit hitzigem Temperament. Er war Klempner und
heiratete eine Schottin, die erst kurz zuvor aus Edinburgh nach Amerika
gekommen war.
In meiner zweiten
Erinnerung an meinen Vater befinden wir uns in seinem Schlafzimmer, und ich
sehe ihm dabei zu, wie er sich das Hemd zuknöpft und sein Polizeiabzeichen
daran befestigt. Das Hemd hatte zwei dafür vorgesehene Ösen, und mein Vater
hakte das Abzeichen dort ein und sicherte es. Seine Waffe hing an der Kante
seines Schaukelstuhls, und die Fenster standen offen. Es war Sommer. Sommer in
Tyler, Texas, sind heiß und schwül. Draußen drehten sich die Sprinkler, und
Wespen flogen hörbar gegen die Fliegengitter. In meinen Erinnerungen ist es
immer Sommer in Tyler.
Ich saß auf dem
Fußboden, mit dem Rücken ans Bett gelehnt. Ich liebte es, meinem Vater beim
Anziehen zuzusehen. Im Gegensatz zu mir und meinem Bruder war mein Vater
äußerst gepflegt. Seine Hemden waren gebügelt, und er trug auch im Sommer stets
ein Unterhemd. Er schwitzte fast überhaupt nicht, was ich der Tatsache
zuschrieb, dass er Deutscher war. Seine Herkunft aus einem kühleren Klima
schien ihm eine besondere Ausgewogenheit zu geben.
Er band seinen
Schlips zu einem doppelten Windsorknoten und kämmte sein Haar mit Sorgfalt.
Mein Vater trug sein Haar kurz geschnitten. Ich selbst hatte damals Haar im
Überfluss, ein Gewirr an Locken, das nicht zu bändigen war. Mein Vater hätte es
gern gesehen, wenn ich alle drei Wochen zum Friseur gegangen wäre, doch meine
Mutter scheute die in ihren Augen unnötige Ausgabe. Daher sah mein Haar oft
monatelang keine Schere und wuchs immer üppiger; und meine Versuche, es mittels
eines Kamms im Zaum zu halten, waren zum Scheitern verurteilt.
Bevor sich mein
Vater seine Waffe umschnallte, trat er ans Fenster. Wir lebten damals in einer
Garagenwohnung nahe der Innenstadt. Draußen sonnten sich die Töchter unseres
Vermieters. Sie waren im Teenageralter und gingen auf die Oberschule von Tyler.
Sie wussten, dass mein Vater Nachmittagsschicht hatte, und ich glaube, dass die
ältere von ihnen, oder vielleicht auch beide, in ihn verschossen waren. Wie dem
auch sei, sie lagen ständig dort in der Sonne, rosig und leicht verschwitzt.
Mein Vater saß auf
dem Bett und starrte aus dem Fenster. Es war still im Zimmer, und ich konnte
ihn atmen hören. Ich spürte die Kühle des Fußbodens und roch das leichte Aroma
seines Rasierwassers. Ich ging zum Fenster. Bis auf eine kurze Hose war ich
nackt. Ich spähte über das Fensterbrett, erblickte die Mädchen und sah dann
meinen Vater an.
Er fragte: „Und,
was denkst du?” Ich dachte gar nichts. Ich war erst vier, und alles, was mir
wirklich aufgefallen war, waren die Bäume. Dann, auf einmal, sah ich die
Mädchen und die Bäume, und ich hörte das Summen der Insekten und das Säuseln
des Windes, und ich roch das Gras und das Rasierwasser meines Vaters. Ich
erschauerte, und der Augenblick blieb mir im Gedächtnis, während andere
Momente, vielleicht ebenso einprägsam, dem Vergessen anheim fielen.
„Wo ist deine
Mutter?” Noch eine Frage, auf die ich keine Antwort hatte. Ich wusste jedoch,
dass meine Mutter bald kommen würde - das tat sie immer. Sie würde erscheinen,
und mein Vater würde sich auf sein Motorrad setzen und verschwinden. Dann käme
der Abend, und meine Mutter und ich würden unsere Wache beginnen. Mit Popcorn
und Schokolade bewaffnet säßen wir im warmen Licht des Fernsehers, wie jede
Nacht. Ich glaube, dass es dieses Ritual war, das mich zu einem Nachtmenschen
machte. Auch heute noch ziehe ich es vor, spät am Abend bis in den frühen
Morgen hinein zu arbeiten und dann bis zum Nachmittag zu schlafen. Sowohl meine
Mutter als auch mein Vater waren Nachtmenschen.
Mein Vater hatte
von sechzehn Uhr bis Mitternacht Dienst und patrouillierte unsere kleine Stadt
auf einer schwarz-weißen Harley-Davidson. Es gab nur zwei Polizisten auf
Motorrädern bei uns - meinen Vater und meinen Onkel Robert O'Roy. Meist fuhren
sie gemeinsam und gaben schon ein seltsames Bild ab, beide groß und schlank, in
ihre schwarzen Uniformen gekleidet. Später, als ich begann, mich für Geschichte
zu interessieren, war ich fasziniert von der Wehrmacht, denn eines der ersten
Fotos, die ich sah, zeigte die deutsche Armee auf ihrem Eilzug durch Lüttich in
dem Versuch, die britische und französische Armee zu umstellen. An der Spitze
der Kolonne fuhren die deutschen Motorradfahrer. Vor meinem geistigen Auge sah
ich meinen Vater und meinen Onkel auf ihren Motorrädern, und ich dachte über
die Männer am Kopf der Kolonne nach. Was sie wohl für Menschen waren?
Wenn ich nicht
gerade mit meiner Mutter fernsah, war ich mit meinen Spielzeugsoldaten
beschäftigt. Ich besaß Hunderte davon und sammelte sie, bis ich auf die
Oberschule kam. Noch heute komme ich kaum an einem Trödler vorbei ohne
nachzusehen, ob es eine Armee zu kaufen gibt, die ich damals nicht hatte.
Anfangs spielte ich einfach so darauf los, doch als ich älter wurde, las ich
Geschichtsbücher, damit ich echte Schlachten und einzelne Gefechte nachstellen
konnte.
Als wir in der
Garagenwohnung lebten, baute meine Mutter mir unter der Treppe einen
Sandkasten, und mein Vater installierte einen Flaschenzug, sodass meine Mutter
meine Spielsachen zu mir herunterlassen konnte. Ich würde nach oben rufen, dass
ich mehr Soldaten bräuchte, oder ich würde meine Mutter bitten, die Armeen aus
dem Zweiten Weltkrieg gegen Cowboys und Indianer auszutauschen. Was meine
Kriegsspiele betraf, war ich ein Purist. Andere Kinder hatten keine Probleme
damit, Cowboys gegen deutsche Soldaten antreten zu lassen, doch ich war immer
darauf bedacht, Kriege und Armeen fein säuberlich getrennt zu halten. Nur
selten ließ ich beispielsweise einen Araber gegen einen Deutschen kämpfen und
dies auch nur, wenn ich der Meinung war, die Situation historisch begründen zu
können. Rommel und seine Männer waren doch sicher auf Araber gestoßen.
Meine Mutter
war eine schöne Frau. Tagsüber arbeitete sie in der Redaktion der örtlichen
Zeitung. In meiner Heimatstadt war es in den fünfziger Jahren noch ungewöhnlich
für eine weiße Frau, einer Arbeit nachzugehen, und meiner Mutter fiel es
besonders schwer, denn sie war schüchtern und mochte es nicht, auf sich allein
gestellt zu sein. Es muss sie jeden Morgen viel Überwindung gekostet haben, den
Bus zu nehmen und in die Redaktion zu fahren. Ihre Arbeit für die Zeitung machte
mich zu einer kleinen Berühmtheit, denn wann immer für einen Artikel das Foto
eines Kindes gebraucht wurde, war ich das Modell. Man zeigte mich beim
Versenden eines Briefs an den Weihnachtsmann und bei der Begrüßung von
Besuchern des städtischen Rosenfestivals. Im September stand ich vor dem
Schulgebäude als Vorbote des neuen Schuljahres. Sogar während meiner Pubertät,
als ich Übergewicht und hervorstehende Zähne hatte, veröffentlichte die Zeitung
weiter Fotos von mir.
Meine Mutter war
ein Opfer ihres Vaters, eines herrischen Mannes, der wie ein Diktator über
seine Frau und seine Kinder bestimmte. Mein Großvater war groß und dünn,
rasierte seinen Kopf und trug eine Nickelbrille. Er war bösartig, aber
keineswegs unattraktiv. Er war ein kreativer Geist und der Erfinder
verschiedener Innovationen auf dem Gebiet der Klempnerei. Er sprühte vor Witz
und konnte lange, verwickelte Geschichten erzählen. Außerdem war er Jäger in
der Tradition William Faulkners. Während meiner ersten Studienjahre, wenn ich
einen Pflichtkurs belegte, der mich nicht interessierte, las ich häufig
Faulkner, und die Lektüre erinnerte mich stets an meinen Großvater und seine
Busenfreunde.
Im Alter von
fünfzig Jahren zog mein Großvater sich aus dem Geschäft zurück und erwarb eine
Farm in den Wäldern im Osten von Texas, wo er Hunde und Maultiere züchtete und
seine Zeit damit verbrachte, Farmarbeiten zu verrichten, zu jagen und Anekdoten
über seine Nachbarn zu sammeln. Eine meiner Lieblingsgeschichten betrifft den
Verlust seines Haares. Im Ersten Weltkrieg diente er in der Marine, und eines
Abends, vor der Küste Brasiliens, beschloss er, sich die Haare zu waschen. Weil
das Trinkwasser streng rationiert war, benutzte er Meereswasser, doch nach
einigen Minuten bemerkte er, dass sein Haar beim Waschen büschelweise ausfiel.
Mein Großvater beschwört, dass er von jenem Tag an eine volle Glatze hatte und
dass das Salzwasser aus dem Meer vor der brasilianischen Küste die Ursache
dafür war. Ich mochte die Geschichte aus zwei Gründen: weil er in der Marine
war und Südamerika gesehen hatte, und weil er eine ganze Geschichte erfunden
hatte, nur um seine Glatze zu erklären. Mein Großvater ließ es nicht zu, dass
ihm alltägliche Dinge widerfuhren - alles wurde stets in eine Story verwandelt.
Er war die Hauptfigur nicht einer Geschichte oder eines Romans, sondern eines
ganzen Mythos, den er selbst geschaffen hatte. In diesem Mythos war er
Odysseus, der Wanderer.
Auch nachdem er
seinen Beruf an den Nagel gehangen hatte, verschwand er oft monatelang. Meine
Großmutter erhielt dann Ansichtskarten aus Orten wie Colorado, Montreal oder
Mexiko-Stadt, auf denen meist nur „Bin am Leben. Viele Grüße Ira” stand. Seine
Dreistigkeit und die Geduld meiner Großmutter hörten nie auf, mich zu
erstaunen.
Meine Mutter ist
schüchtern, und Reisen machen ihr Angst. Ich habe in vielen Ländern der Erde
gelebt und meine Eltern stets eingeladen, mich zu besuchen, doch sie sind nie
gekommen. Sie sind zufrieden in Tyler und können nicht nachvollziehen, warum
jemand die Stadt verlassen wollen könnte. Als Kind war ich der festen
Überzeugung, dass die Welt an der Stadtgrenze zu Ende sei. Als meine Großeltern
auf ihre Farm zogen und wir sie eines Sonntags zum ersten Mal dort besuchen
fuhren, war ich starr vor Angst. Ich wusste, dass wir die Stadt jeden
Augenblick verlassen würden, und mir war nicht klar, was dann mit uns geschehen
würde. Meinem Vater verschwieg ich meine Befürchtungen, weil ich vor ihm nicht
als Angsthase und kleines Kind dastehen wollte, glaube jedoch, dass auch meiner
Mutter bei jenem ersten Ausflug nicht ganz wohl war. Mein Vater hingegen hatte
die Welt gesehen. Seltsamerweise schienen seine Abenteuer ihn nicht sonderlich
beeindruckt zu haben, und er sprach nur selten darüber. Ich erfuhr erst später,
wie viel er gereist war.
Das Sonntagsessen
im Hause meiner Großmutter war bis zur „Wiedergeburt” meiner Mutter Brauch in
unserer Familie. Nachdem meine Mutter Jesus gefunden hatte, fanden die
Familienzusammenkünfte mit meinen Onkeln, Tanten, Vettern und Cousinen ein
jähes Ende, und es kam zu einer Spaltung zwischen meinem Großvater und meiner
Mutter, die nie überbrückt wurde. Mein Großvater ging zur Messe, verabscheute
jedoch die lautstarke Gefühlsbetontheit bestimmter, im Süden der Vereinigten
Staaten populärer Konfessionsgruppen. Einer solchen trat meine Mutter bei, als
ich zwölf war, und unser Leben - das meines Vaters, meines Bruders und meines -
wurde zur Hölle auf Erden. Bis dahin war ich in einer Art ländlichen Heidentums
aufgewachsen, untermalt von der katholischen Heiligenverehrung meines
Großvaters und der stillen teutonischen Sinnlichkeit meines Vaters. Nun sollte
ich Bekanntschaft mit all' den Erleuchtungen schließen, die das
hinterwäldlerische Christentum der Südstaaten zu bieten hatte.
Die Ankunft des
Zuges riss mich aus meinen Tagträumen. Ich blickte auf den Bahnsteig hinaus.
Ich war schon des Öfteren mit meiner Frau hier gewesen. Sie mochte die Gegend
nicht besonders; ich liebte sie. Was sie abstieß, waren der ländliche Charakter
der Stadt, das volle, üppige Unterholz und die Spazierwege, die durch den
Schwarzwald führten. Mir gefielen die Bäume, die schnell dahinfließende Oos und
die typisch deutsche Pflege des Waldes. Niemand pflegt die Natur, wie es die
Deutschen tun. Sogar der dichte Wald verriet die Sorgfalt einer ordnenden Hand.
Ich liebte es, im Sommer, auch bei Regen, unter den Bäumen spazieren zu gehen
und dem Kommen und Gehen der Tauben vor ihren Schlägen zuzusehen, die entlang
der Naturpfade aufgestellt waren. Morgens joggten meine Frau und ich auf den
Wanderwegen, abends spazierten wir auf der Suche nach einem Café durch die
Kopfsteinpflasterstraßen. Ich mochte Baden-Baden auch im Winter. Die Kälte hat
etwas Tröstliches. Im Sommer fühle ich mich den Blicken ausgesetzt, im Winter
kann ich mich hinter einem Schal und einem dicken Mantel verbergen.
An jenem Tag stand
ein Mann auf dem Bahnsteig. Er trug eine Bundeswehruniform, jedoch ohne die
Abzeichen, die seinen Dienstgrad und seine Einheit offenbaren würden. Ich
beschloss, mir etwas die Beine zu vertreten. Während ich den Bahnsteig auf und
ab lief, begann der Mann, mich zu beobachten. Er war jung, um die dreißig, und
wirkte ungepflegt. Trotz der Kälte trug er keine Jacke. Unter seiner
Arbeitsuniform war ein T-Shirt zu sehen. Er war unrasiert, und sein blondes Haar,
obwohl kurz, war verstrubbelt.
„Haben Sie eine
Zigarette?”, fragte er auf Deutsch.
„Nein.”, antwortete
ich. Ich traute diesem Mann nicht. Er hatte sich mir auf zu vertrauliche Weise
genähert, und mein Akzent weckte sofort seine Aufmerksamkeit.
Er fragte mich nach
dem Ziel meiner Reise.
„Paris.”
„Sie sind
Amerikaner?” fragte er, nun auf Englisch, mit deutlichem Akzent.
„In der Tat, und
Sie sind Deutscher?”
„Natürlich.” Er
lachte. „Mein Englisch ist nicht besonders gut.”
„Parlez-vous
français?”, erkundigte er sich nach meinen Französischkenntnissen - mit
einem Lächeln, als sei dies der Anfang eines Spieles, bei dem wir fast alle
Sprachen dieser Welt durchgehen würden.
„Oui, et vous?”
„Très bien. Je
vais à Strasbourg.”
Ich fragte mich,
was als Nächstes kommen würde. Warum wollte er nicht deutsch sprechen? Seine
linguistischen Spielchen schienen ihn zu amüsieren. Eine Durchsage verkündete,
dass der Zug zur Abfahrt bereitstand. Ich verbeugte mich kurz als Zeichen der
Verabschiedung und ging auf den Zug zu. Er
nahm eine alte Tasche auf und folgte mir. Ich kehrte auf meinen Platz zurück,
und er ließ sich ein paar Reihen vor mir nieder. Er lächelte und wandte sich
dann der jungen Frau zu, die neben ihm saß. Sie sprachen deutsch miteinander
und waren bald völlig in ihr Gespräch vertieft. Er beunruhigte mich. Ob es nun
die Uniform war oder seine Erscheinung - er beunruhigte mich.
Der Zug
verlangsamte seine Fahrt, als wir die französische Grenze erreichten. Eine
Gruppe deutscher Polizisten stieg zu. Sie trugen khakifarbene Uniformen und
Dienstwaffen im Gürtel. Der junge Soldat erhob sich. Er verabschiedete sich von
der jungen Frau und kam den Gang hinunter, sich von den Polizisten entfernend.
Als er an meinem Platz vorbeikam, hielt er eine Sekunde lang inne und sah mich
an. Dann ging er weiter. Sobald die beiden Polizisten in unserem Waggon ihn
bemerkt hatten, bewegten sie sich schnell in seine Richtung. Der Kleinere von
ihnen rief, dass er stehen bleiben solle. Er folgte der Aufforderung nicht,
sondern rannte zur Tür und sprang aus dem Zug.
Die junge Frau
drehte sich nach mir um und lächelte nervös. Was mir als Erstes an ihr auffiel,
war ihre bemerkenswerte Schönheit. Ich hatte noch nie so ebenmäßige Züge
gesehen. Sie hatte einen Schmollmund, der an populäre Schauspielerinnen aus den
fünfziger Jahren erinnerte. Im Gegensatz zu ihnen war sie jedoch sehr schlank,
mit heller Haut und feinen Zügen - rein und klassisch. Der Blick, den sie mir
zuwarf, war jedoch voller Sorge, vermutlich wegen ihres Soldaten.
Der Zug fuhr langsam
über die Grenze nach Frankreich. Nun stiegen französische Polizisten in ihren
feschen Uniformen zu. Die Franzosen sind sogar dann kultiviert, wenn es um die
Demonstration von Autorität geht. Sie blieben vor der jungen Frau stehen, und
ich lehnte mich nach vorn, um nichts zu verpassen. Es lag mir viel daran, ihre
Stimme zu hören. Sie waren zu zweit, genau wie zuvor die Deutschen. Einer von
ihnen war Anfang zwanzig, der andere vielleicht Mitte dreißig. Der ältere Mann
war dünn und sah aus, als fräße ihn das Leben von innen her auf. Ein Muskel
zuckte in seinem Gesicht, und er machte einen besorgten Eindruck. Der jüngere
Beamte war blond und trank offenbar zu viel Wein. Er war dick, und seine blaue
Uniformjacke war ihm zu eng.
Der junge Polizist
sah die Frau an und schien überwältigt von ihrer Schönheit.
„Bonjour,
mademoiselle.” Er hielt inne und betrachtete sie erneut. Er konnte sein
Glück kaum fassen; derart attraktiven Verdächtigen begegnete er sicher nicht
alle Tage. „Votre passeport, s'il vous plaît.”, bat er sie um ihren
Pass.
„Pardon? Je
ne parle pas français.” Ihre Behauptung, kein Französisch zu können,
überraschte ihn. Es gelang ihm nicht, ihren Akzent einzuordnen, und so fragte
er, ob sie Deutsche sei:
„Vous êtes
Allemande?”
„Canadienne.”,
erklärte sie.
Der ältere und
ranghöhere der beiden Polizisten hatte nun genug von diesem Austausch. „Qui
est cet homme?”, erkundigte er sich nach dem Soldaten.
Die Frau zuckte mit
den Achseln, auf eine Art, die Furcht, Ärger über die Unhöflichkeit der
Polizisten und vollständiges Unverständnis zum Ausdruck brachte. Mir war
bewusst, dass ich mich besser aus dieser Sache heraushalten sollte, doch es
gelang mir nicht. Ihr Angesicht hatte mich in seinen Bann geschlagen. „Pardonnez
moi, messieurs, mais je parle anglais.”
Ich weiß nicht, was
ich mit meiner Erklärung, Englisch zu sprechen, bezweckte. Willkommen war meine
Hilfe jedenfalls nicht. Der ältere Franzose drehte sich zu mir um und brüllte:
„Asseyez-vous!”, und der jüngere bewegte sich auf mich zu, wobei er den
Griff seiner Waffe berührte. Ich folgte dem Befehl und setzte mich.
Die Polizisten
forderten die Frau dazu auf mitzukommen, und ehe ich noch etwas unternehmen
konnte, war sie fort. Einige Minuten vergingen. Zwei andere Polizeibeamte
erschienen. Sie überprüften meinen Pass, und dann gewann der Zug an
Geschwindigkeit. Als wir Straßburg verließen, sah ich in einem alten Gebäude
einen Mann am Fenster stehen. Er war mittleren Alters, mager, aber muskulös. Er
rauchte eine Zigarette und war splitterfasernackt.
Einen Augenblick
lang wähnte ich mich wieder in Tyler. Auch diesmal war es Nachmittag und heiß,
und mein Vater war gerade wach geworden, nachdem er in der Nacht zuvor eine
Doppelschicht gehabt hatte. Er saß auf der Bettkante und war nackt wegen der
Hitze. Dann ging er zum Fenster und sah hinaus. Ich spielte unter der Treppe.
Eines der jungen Nachbarmädchen sah nach oben zum Fenster, und ich wusste, dass
mein Vater dort stand. Sie lächelte und begann, ihre Bluse aufzuknöpfen.