Wednesday, July 17, 2013

Vogel Flies South--Chapter 1 (auf Deutsch)



Ich fuhr mit dem Zug von Berlin nach Paris. Zwischen meiner Lektüre dachte ich über meinen Vater nach. Meine erste Erinnerung an ihn zeigt ihn stehend, in seine Uniform gekleidet. Er war damals gerade aus Korea zurückgekehrt und hatte eine Anstellung bei der Polizei von Tyler gefunden. Mein Vater hatte im Zweiten Weltkrieg in der deutschen Armee gedient und war nach seiner Übersiedlung in die Vereinigten Staaten in die U.S. Army eingetreten, die ihn nach Korea entsandte. Jung war er damals und sehr dünn, viel dünner als ich jetzt. Ich komme nach meinem Großvater mütterlicherseits und bin größer und dunkler als mein Vater, der aus Deutschland stammt und die blasse Haut eines Deutschen hat. Seine Augen sind hellblau, und er lacht viel und gern. Ich dagegen ähnele dem Vater meiner Mutter, einem dunklen Iren mit hitzigem Temperament. Er war Klempner und heiratete eine Schottin, die erst kurz zuvor aus Edinburgh nach Amerika gekommen war.

In meiner zweiten Erinnerung an meinen Vater befinden wir uns in seinem Schlafzimmer, und ich sehe ihm dabei zu, wie er sich das Hemd zuknöpft und sein Polizeiabzeichen daran befestigt. Das Hemd hatte zwei dafür vorgesehene Ösen, und mein Vater hakte das Abzeichen dort ein und sicherte es. Seine Waffe hing an der Kante seines Schaukelstuhls, und die Fenster standen offen. Es war Sommer. Sommer in Tyler, Texas, sind heiß und schwül. Draußen drehten sich die Sprinkler, und Wespen flogen hörbar gegen die Fliegengitter. In meinen Erinnerungen ist es immer Sommer in Tyler.

Ich saß auf dem Fußboden, mit dem Rücken ans Bett gelehnt. Ich liebte es, meinem Vater beim Anziehen zuzusehen. Im Gegensatz zu mir und meinem Bruder war mein Vater äußerst gepflegt. Seine Hemden waren gebügelt, und er trug auch im Sommer stets ein Unterhemd. Er schwitzte fast überhaupt nicht, was ich der Tatsache zuschrieb, dass er Deutscher war. Seine Herkunft aus einem kühleren Klima schien ihm eine besondere Ausgewogenheit zu geben.

Er band seinen Schlips zu einem doppelten Windsorknoten und kämmte sein Haar mit Sorgfalt. Mein Vater trug sein Haar kurz geschnitten. Ich selbst hatte damals Haar im Überfluss, ein Gewirr an Locken, das nicht zu bändigen war. Mein Vater hätte es gern gesehen, wenn ich alle drei Wochen zum Friseur gegangen wäre, doch meine Mutter scheute die in ihren Augen unnötige Ausgabe. Daher sah mein Haar oft monatelang keine Schere und wuchs immer üppiger; und meine Versuche, es mittels eines Kamms im Zaum zu halten, waren zum Scheitern verurteilt.

Bevor sich mein Vater seine Waffe umschnallte, trat er ans Fenster. Wir lebten damals in einer Garagenwohnung nahe der Innenstadt. Draußen sonnten sich die Töchter unseres Vermieters. Sie waren im Teenageralter und gingen auf die Oberschule von Tyler. Sie wussten, dass mein Vater Nachmittagsschicht hatte, und ich glaube, dass die ältere von ihnen, oder vielleicht auch beide, in ihn verschossen waren. Wie dem auch sei, sie lagen ständig dort in der Sonne, rosig und leicht verschwitzt.

Mein Vater saß auf dem Bett und starrte aus dem Fenster. Es war still im Zimmer, und ich konnte ihn atmen hören. Ich spürte die Kühle des Fußbodens und roch das leichte Aroma seines Rasierwassers. Ich ging zum Fenster. Bis auf eine kurze Hose war ich nackt. Ich spähte über das Fensterbrett, erblickte die Mädchen und sah dann meinen Vater an.

Er fragte: „Und, was denkst du?” Ich dachte gar nichts. Ich war erst vier, und alles, was mir wirklich aufgefallen war, waren die Bäume. Dann, auf einmal, sah ich die Mädchen und die Bäume, und ich hörte das Summen der Insekten und das Säuseln des Windes, und ich roch das Gras und das Rasierwasser meines Vaters. Ich erschauerte, und der Augenblick blieb mir im Gedächtnis, während andere Momente, vielleicht ebenso einprägsam, dem Vergessen anheim fielen.

„Wo ist deine Mutter?” Noch eine Frage, auf die ich keine Antwort hatte. Ich wusste jedoch, dass meine Mutter bald kommen würde - das tat sie immer. Sie würde erscheinen, und mein Vater würde sich auf sein Motorrad setzen und verschwinden. Dann käme der Abend, und meine Mutter und ich würden unsere Wache beginnen. Mit Popcorn und Schokolade bewaffnet säßen wir im warmen Licht des Fernsehers, wie jede Nacht. Ich glaube, dass es dieses Ritual war, das mich zu einem Nachtmenschen machte. Auch heute noch ziehe ich es vor, spät am Abend bis in den frühen Morgen hinein zu arbeiten und dann bis zum Nachmittag zu schlafen. Sowohl meine Mutter als auch mein Vater waren Nachtmenschen.

Mein Vater hatte von sechzehn Uhr bis Mitternacht Dienst und patrouillierte unsere kleine Stadt auf einer schwarz-weißen Harley-Davidson. Es gab nur zwei Polizisten auf Motorrädern bei uns - meinen Vater und meinen Onkel Robert O'Roy. Meist fuhren sie gemeinsam und gaben schon ein seltsames Bild ab, beide groß und schlank, in ihre schwarzen Uniformen gekleidet. Später, als ich begann, mich für Geschichte zu interessieren, war ich fasziniert von der Wehrmacht, denn eines der ersten Fotos, die ich sah, zeigte die deutsche Armee auf ihrem Eilzug durch Lüttich in dem Versuch, die britische und französische Armee zu umstellen. An der Spitze der Kolonne fuhren die deutschen Motorradfahrer. Vor meinem geistigen Auge sah ich meinen Vater und meinen Onkel auf ihren Motorrädern, und ich dachte über die Männer am Kopf der Kolonne nach. Was sie wohl für Menschen waren?

Wenn ich nicht gerade mit meiner Mutter fernsah, war ich mit meinen Spielzeugsoldaten beschäftigt. Ich besaß Hunderte davon und sammelte sie, bis ich auf die Oberschule kam. Noch heute komme ich kaum an einem Trödler vorbei ohne nachzusehen, ob es eine Armee zu kaufen gibt, die ich damals nicht hatte. Anfangs spielte ich einfach so darauf los, doch als ich älter wurde, las ich Geschichtsbücher, damit ich echte Schlachten und einzelne Gefechte nachstellen konnte.

Als wir in der Garagenwohnung lebten, baute meine Mutter mir unter der Treppe einen Sandkasten, und mein Vater installierte einen Flaschenzug, sodass meine Mutter meine Spielsachen zu mir herunterlassen konnte. Ich würde nach oben rufen, dass ich mehr Soldaten bräuchte, oder ich würde meine Mutter bitten, die Armeen aus dem Zweiten Weltkrieg gegen Cowboys und Indianer auszutauschen. Was meine Kriegsspiele betraf, war ich ein Purist. Andere Kinder hatten keine Probleme damit, Cowboys gegen deutsche Soldaten antreten zu lassen, doch ich war immer darauf bedacht, Kriege und Armeen fein säuberlich getrennt zu halten. Nur selten ließ ich beispielsweise einen Araber gegen einen Deutschen kämpfen und dies auch nur, wenn ich der Meinung war, die Situation historisch begründen zu können. Rommel und seine Männer waren doch sicher auf Araber gestoßen.  
          Meine Mutter war eine schöne Frau. Tagsüber arbeitete sie in der Redaktion der örtlichen Zeitung. In meiner Heimatstadt war es in den fünfziger Jahren noch ungewöhnlich für eine weiße Frau, einer Arbeit nachzugehen, und meiner Mutter fiel es besonders schwer, denn sie war schüchtern und mochte es nicht, auf sich allein gestellt zu sein. Es muss sie jeden Morgen viel Überwindung gekostet haben, den Bus zu nehmen und in die Redaktion zu fahren. Ihre Arbeit für die Zeitung machte mich zu einer kleinen Berühmtheit, denn wann immer für einen Artikel das Foto eines Kindes gebraucht wurde, war ich das Modell. Man zeigte mich beim Versenden eines Briefs an den Weihnachtsmann und bei der Begrüßung von Besuchern des städtischen Rosenfestivals. Im September stand ich vor dem Schulgebäude als Vorbote des neuen Schuljahres. Sogar während meiner Pubertät, als ich Übergewicht und hervorstehende Zähne hatte, veröffentlichte die Zeitung weiter Fotos von mir.

Meine Mutter war ein Opfer ihres Vaters, eines herrischen Mannes, der wie ein Diktator über seine Frau und seine Kinder bestimmte. Mein Großvater war groß und dünn, rasierte seinen Kopf und trug eine Nickelbrille. Er war bösartig, aber keineswegs unattraktiv. Er war ein kreativer Geist und der Erfinder verschiedener Innovationen auf dem Gebiet der Klempnerei. Er sprühte vor Witz und konnte lange, verwickelte Geschichten erzählen. Außerdem war er Jäger in der Tradition William Faulkners. Während meiner ersten Studienjahre, wenn ich einen Pflichtkurs belegte, der mich nicht interessierte, las ich häufig Faulkner, und die Lektüre erinnerte mich stets an meinen Großvater und seine Busenfreunde.

Im Alter von fünfzig Jahren zog mein Großvater sich aus dem Geschäft zurück und erwarb eine Farm in den Wäldern im Osten von Texas, wo er Hunde und Maultiere züchtete und seine Zeit damit verbrachte, Farmarbeiten zu verrichten, zu jagen und Anekdoten über seine Nachbarn zu sammeln. Eine meiner Lieblingsgeschichten betrifft den Verlust seines Haares. Im Ersten Weltkrieg diente er in der Marine, und eines Abends, vor der Küste Brasiliens, beschloss er, sich die Haare zu waschen. Weil das Trinkwasser streng rationiert war, benutzte er Meereswasser, doch nach einigen Minuten bemerkte er, dass sein Haar beim Waschen büschelweise ausfiel. Mein Großvater beschwört, dass er von jenem Tag an eine volle Glatze hatte und dass das Salzwasser aus dem Meer vor der brasilianischen Küste die Ursache dafür war. Ich mochte die Geschichte aus zwei Gründen: weil er in der Marine war und Südamerika gesehen hatte, und weil er eine ganze Geschichte erfunden hatte, nur um seine Glatze zu erklären. Mein Großvater ließ es nicht zu, dass ihm alltägliche Dinge widerfuhren - alles wurde stets in eine Story verwandelt. Er war die Hauptfigur nicht einer Geschichte oder eines Romans, sondern eines ganzen Mythos, den er selbst geschaffen hatte. In diesem Mythos war er Odysseus, der Wanderer.

Auch nachdem er seinen Beruf an den Nagel gehangen hatte, verschwand er oft monatelang. Meine Großmutter erhielt dann Ansichtskarten aus Orten wie Colorado, Montreal oder Mexiko-Stadt, auf denen meist nur „Bin am Leben. Viele Grüße Ira” stand. Seine Dreistigkeit und die Geduld meiner Großmutter hörten nie auf, mich zu erstaunen.

Meine Mutter ist schüchtern, und Reisen machen ihr Angst. Ich habe in vielen Ländern der Erde gelebt und meine Eltern stets eingeladen, mich zu besuchen, doch sie sind nie gekommen. Sie sind zufrieden in Tyler und können nicht nachvollziehen, warum jemand die Stadt verlassen wollen könnte. Als Kind war ich der festen Überzeugung, dass die Welt an der Stadtgrenze zu Ende sei. Als meine Großeltern auf ihre Farm zogen und wir sie eines Sonntags zum ersten Mal dort besuchen fuhren, war ich starr vor Angst. Ich wusste, dass wir die Stadt jeden Augenblick verlassen würden, und mir war nicht klar, was dann mit uns geschehen würde. Meinem Vater verschwieg ich meine Befürchtungen, weil ich vor ihm nicht als Angsthase und kleines Kind dastehen wollte, glaube jedoch, dass auch meiner Mutter bei jenem ersten Ausflug nicht ganz wohl war. Mein Vater hingegen hatte die Welt gesehen. Seltsamerweise schienen seine Abenteuer ihn nicht sonderlich beeindruckt zu haben, und er sprach nur selten darüber. Ich erfuhr erst später, wie viel er gereist war.

Das Sonntagsessen im Hause meiner Großmutter war bis zur „Wiedergeburt” meiner Mutter Brauch in unserer Familie. Nachdem meine Mutter Jesus gefunden hatte, fanden die Familienzusammenkünfte mit meinen Onkeln, Tanten, Vettern und Cousinen ein jähes Ende, und es kam zu einer Spaltung zwischen meinem Großvater und meiner Mutter, die nie überbrückt wurde. Mein Großvater ging zur Messe, verabscheute jedoch die lautstarke Gefühlsbetontheit bestimmter, im Süden der Vereinigten Staaten populärer Konfessionsgruppen. Einer solchen trat meine Mutter bei, als ich zwölf war, und unser Leben - das meines Vaters, meines Bruders und meines - wurde zur Hölle auf Erden. Bis dahin war ich in einer Art ländlichen Heidentums aufgewachsen, untermalt von der katholischen Heiligenverehrung meines Großvaters und der stillen teutonischen Sinnlichkeit meines Vaters. Nun sollte ich Bekanntschaft mit all' den Erleuchtungen schließen, die das hinterwäldlerische Christentum der Südstaaten zu bieten hatte.

Die Ankunft des Zuges riss mich aus meinen Tagträumen. Ich blickte auf den Bahnsteig hinaus. Ich war schon des Öfteren mit meiner Frau hier gewesen. Sie mochte die Gegend nicht besonders; ich liebte sie. Was sie abstieß, waren der ländliche Charakter der Stadt, das volle, üppige Unterholz und die Spazierwege, die durch den Schwarzwald führten. Mir gefielen die Bäume, die schnell dahinfließende Oos und die typisch deutsche Pflege des Waldes. Niemand pflegt die Natur, wie es die Deutschen tun. Sogar der dichte Wald verriet die Sorgfalt einer ordnenden Hand. Ich liebte es, im Sommer, auch bei Regen, unter den Bäumen spazieren zu gehen und dem Kommen und Gehen der Tauben vor ihren Schlägen zuzusehen, die entlang der Naturpfade aufgestellt waren. Morgens joggten meine Frau und ich auf den Wanderwegen, abends spazierten wir auf der Suche nach einem Café durch die Kopfsteinpflasterstraßen. Ich mochte Baden-Baden auch im Winter. Die Kälte hat etwas Tröstliches. Im Sommer fühle ich mich den Blicken ausgesetzt, im Winter kann ich mich hinter einem Schal und einem dicken Mantel verbergen.

An jenem Tag stand ein Mann auf dem Bahnsteig. Er trug eine Bundeswehruniform, jedoch ohne die Abzeichen, die seinen Dienstgrad und seine Einheit offenbaren würden. Ich beschloss, mir etwas die Beine zu vertreten. Während ich den Bahnsteig auf und ab lief, begann der Mann, mich zu beobachten. Er war jung, um die dreißig, und wirkte ungepflegt. Trotz der Kälte trug er keine Jacke. Unter seiner Arbeitsuniform war ein T-Shirt zu sehen. Er war unrasiert, und sein blondes Haar, obwohl kurz, war verstrubbelt.

„Haben Sie eine Zigarette?”, fragte er auf Deutsch.

„Nein.”, antwortete ich. Ich traute diesem Mann nicht. Er hatte sich mir auf zu vertrauliche Weise genähert, und mein Akzent weckte sofort seine Aufmerksamkeit.

Er fragte mich nach dem Ziel meiner Reise.

„Paris.”

„Sie sind Amerikaner?” fragte er, nun auf Englisch, mit deutlichem Akzent.

„In der Tat, und Sie sind Deutscher?”

„Natürlich.” Er lachte. „Mein Englisch ist nicht besonders gut.”

Parlez-vous français?”, erkundigte er sich nach meinen Französischkenntnissen - mit einem Lächeln, als sei dies der Anfang eines Spieles, bei dem wir fast alle Sprachen dieser Welt durchgehen würden.

Oui, et vous?

Très bien. Je vais à Strasbourg.

Ich fragte mich, was als Nächstes kommen würde. Warum wollte er nicht deutsch sprechen? Seine linguistischen Spielchen schienen ihn zu amüsieren. Eine Durchsage verkündete, dass der Zug zur Abfahrt bereitstand. Ich verbeugte mich kurz als Zeichen der Verabschiedung und ging auf den Zug zu.  Er nahm eine alte Tasche auf und folgte mir. Ich kehrte auf meinen Platz zurück, und er ließ sich ein paar Reihen vor mir nieder. Er lächelte und wandte sich dann der jungen Frau zu, die neben ihm saß. Sie sprachen deutsch miteinander und waren bald völlig in ihr Gespräch vertieft. Er beunruhigte mich. Ob es nun die Uniform war oder seine Erscheinung - er beunruhigte mich.

Der Zug verlangsamte seine Fahrt, als wir die französische Grenze erreichten. Eine Gruppe deutscher Polizisten stieg zu. Sie trugen khakifarbene Uniformen und Dienstwaffen im Gürtel. Der junge Soldat erhob sich. Er verabschiedete sich von der jungen Frau und kam den Gang hinunter, sich von den Polizisten entfernend. Als er an meinem Platz vorbeikam, hielt er eine Sekunde lang inne und sah mich an. Dann ging er weiter. Sobald die beiden Polizisten in unserem Waggon ihn bemerkt hatten, bewegten sie sich schnell in seine Richtung. Der Kleinere von ihnen rief, dass er stehen bleiben solle. Er folgte der Aufforderung nicht, sondern rannte zur Tür und sprang aus dem Zug.

Die junge Frau drehte sich nach mir um und lächelte nervös. Was mir als Erstes an ihr auffiel, war ihre bemerkenswerte Schönheit. Ich hatte noch nie so ebenmäßige Züge gesehen. Sie hatte einen Schmollmund, der an populäre Schauspielerinnen aus den fünfziger Jahren erinnerte. Im Gegensatz zu ihnen war sie jedoch sehr schlank, mit heller Haut und feinen Zügen - rein und klassisch. Der Blick, den sie mir zuwarf, war jedoch voller Sorge, vermutlich wegen ihres Soldaten.

Der Zug fuhr langsam über die Grenze nach Frankreich. Nun stiegen französische Polizisten in ihren feschen Uniformen zu. Die Franzosen sind sogar dann kultiviert, wenn es um die Demonstration von Autorität geht. Sie blieben vor der jungen Frau stehen, und ich lehnte mich nach vorn, um nichts zu verpassen. Es lag mir viel daran, ihre Stimme zu hören. Sie waren zu zweit, genau wie zuvor die Deutschen. Einer von ihnen war Anfang zwanzig, der andere vielleicht Mitte dreißig. Der ältere Mann war dünn und sah aus, als fräße ihn das Leben von innen her auf. Ein Muskel zuckte in seinem Gesicht, und er machte einen besorgten Eindruck. Der jüngere Beamte war blond und trank offenbar zu viel Wein. Er war dick, und seine blaue Uniformjacke war ihm zu eng.

Der junge Polizist sah die Frau an und schien überwältigt von ihrer Schönheit.

Bonjour, mademoiselle.” Er hielt inne und betrachtete sie erneut. Er konnte sein Glück kaum fassen; derart attraktiven Verdächtigen begegnete er sicher nicht alle Tage. „Votre passeport, s'il vous plaît.”, bat er sie um ihren Pass.

Pardon? Je ne parle pas français.” Ihre Behauptung, kein Französisch zu können, überraschte ihn. Es gelang ihm nicht, ihren Akzent einzuordnen, und so fragte er, ob sie Deutsche sei:

Vous êtes Allemande?

Canadienne.”, erklärte sie.

Der ältere und ranghöhere der beiden Polizisten hatte nun genug von diesem Austausch. „Qui est cet homme?”, erkundigte er sich nach dem Soldaten.

Die Frau zuckte mit den Achseln, auf eine Art, die Furcht, Ärger über die Unhöflichkeit der Polizisten und vollständiges Unverständnis zum Ausdruck brachte. Mir war bewusst, dass ich mich besser aus dieser Sache heraushalten sollte, doch es gelang mir nicht. Ihr Angesicht hatte mich in seinen Bann geschlagen. „Pardonnez moi, messieurs, mais je parle anglais.

Ich weiß nicht, was ich mit meiner Erklärung, Englisch zu sprechen, bezweckte. Willkommen war meine Hilfe jedenfalls nicht. Der ältere Franzose drehte sich zu mir um und brüllte: „Asseyez-vous!”, und der jüngere bewegte sich auf mich zu, wobei er den Griff seiner Waffe berührte. Ich folgte dem Befehl und setzte mich.

Die Polizisten forderten die Frau dazu auf mitzukommen, und ehe ich noch etwas unternehmen konnte, war sie fort. Einige Minuten vergingen. Zwei andere Polizeibeamte erschienen. Sie überprüften meinen Pass, und dann gewann der Zug an Geschwindigkeit. Als wir Straßburg verließen, sah ich in einem alten Gebäude einen Mann am Fenster stehen. Er war mittleren Alters, mager, aber muskulös. Er rauchte eine Zigarette und war splitterfasernackt.

Einen Augenblick lang wähnte ich mich wieder in Tyler. Auch diesmal war es Nachmittag und heiß, und mein Vater war gerade wach geworden, nachdem er in der Nacht zuvor eine Doppelschicht gehabt hatte. Er saß auf der Bettkante und war nackt wegen der Hitze. Dann ging er zum Fenster und sah hinaus. Ich spielte unter der Treppe. Eines der jungen Nachbarmädchen sah nach oben zum Fenster, und ich wusste, dass mein Vater dort stand. Sie lächelte und begann, ihre Bluse aufzuknöpfen.